Das Interview Hi Birdy. Du sagst sehr oft, daß Du Schubladendenken nicht magst. Was bedeutet das in Bezug auf Deine Lieblingsmusik Jazz? Es gibt den Jazz ja eigentlich gar nicht. Das entspringt doch auch dem furchtbaren Wunsch, allem ein Label zu verpassen, um es besser unter Kontrolle zu haben: Packe einen Aufkleber drauf "Vorsicht! Enthält Jazz" und die meisten Musikhörer brauchen nicht weiter zuzuhören und können sich sofort abwenden. Das wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das, was gemeinhin als Jazz vermutet wird, ist doch nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes. Es ist das alte Lied: Wenn Du jemandem erzählst und vorspielst, was alles Jazz ist oder zumindest aus derselben Ecke kommt, wird zwangsläufig ein "Das ist auch Jazz???" folgen. Die meisten Radio- und Fernsehsender halten das Publikum ja einfältig und servieren ihnen nur das, was Erfolg hat. Es werden keine neuen Reize gesetzt. Und das Internet bietet nur dem Überraschungen - ich meine natürlich angenehme - der vorher weiß, wo er sich überraschen lassen kann. Klingt paradox, ist es aber beim zweiten Betrachten gar nicht. Und da ist doch nichts gefährlicher, als Jazz & Artverwandtes in eine Schublade zu packen und sicher zu verschließen. Musiker, Veranstalter, Medienmenschen, Musikinteressierte - sie alle sollten sich vom Labelismus verabschieden, das täte der ganzen Sache gut. Wie kommt man eigentlich dazu, Jazzfan zu werden? Als ich 12 oder 13 war, wurde Geschmack medial noch nicht so sehr geplant. Es gab ein wesentlich größeres Angebot, insbesondere im Radio. Als Kind hörte ich alles Mögliche, doch dann packte mich der Sound der Swing und Jazz Bands der 30er und 40er, Benny Goodman, Glenn Miller, Duke Ellington. Da konnte ich noch gar nicht benennen, was das denn war, das mir so gut gefiel. Und dann hörte ich 1980 eine Radiosendung eines Live-Konzerts von Louis Armstrong und seinen All Stars. Ich nahm das auf Cassette auf und spielte die so häufig ab, daß das Band wahrscheinlich schon durchsichtig wurde. Drummer Barrett Deems spielte da auch ein Solo zu "Stompin' at the Savoy", das mich vollkommen umhaute. Daß später ein Drummer aus mir wurde, hätte man wahrscheinlich damals schon meinen leuchtenden Augen ansehen können. Von da ab wollte ich wissen, was denn diese "Jazzmusik" noch so zu bieten hatte. Und ich kann Dir sagen, damals gab es im Radio unfaßbar viel Jazz - und nicht nur ein paar Minütchen, sondern Sendungen von ein, zwei Stunden, ohne Werbungsscheiße. Stilistisch bliebst Du aber nicht beim Swing… Nein. Ich mag sowohl Bewährtes aber eben auch Neues. Stehenbleiben liegt mir nicht so sehr. Und so habe ich dann fleißig geforscht. Mann, was man in dieser Musik für Entdeckungen machen kann! Wo auch immer ich hinhörte, tat sich eine neue Welt auf. Hier Jimmie Lunceford, da Cannonball Adderley; hier Lionel Hampton, da Betty Carter, dort Count Basie. Das war die Ära der Audiocassetten, und mein Bruder - der glücklicherweise einen sehr ähnlichen Musikgeschmack hatte - und ich nahmen geschätzte 5732565 Cassetten mit Jazz auf. Nach und nach entwickelte sich meine Vorliebe mehr in modernere Richtungen. Mir blieben die Old Style Big Bands erhalten - ich bin auch jetzt noch ein Fan von Lunceford, Webb, Ellington, Basie usw. - aber modernere Richtungen sagten mir noch mehr zu. Als Schlagzeugfan war das auch fast zwangsläufig, denn die Swing-Ära hatte zwar Top-Drummer, die aber außer bei Fills und Soli im Hintergrund blieben. Das emanzipiertere Schlagzeugspiel eines Kenny Clarke oder Max Roach gab mir insgesamt mehr Kicks. Meine Heimat fand ich im Modern Jazz - sowohl bei Leuten wie John Coltrane, Miles Davis, Charles Mingus oder Pharoah Sanders, als auch im Hard Bop nach Art von Lee Morgen, Horace Silver, Art Blakey. Daneben bin ich Fan von Soul, Funk, klassischer Musik, Filmmusik, sogenanntem Smooth Jazz, Blues, Old School Rap ... langweilig wird mir garantiert nicht. Aber es geht mir hier nicht um generelle Aussagen. Es gibt aus meiner Sicht Soulmusik und es gibt Billigsoul, es gibt Filmmusik (Bernard Herrmann, Miklos Rozsa, Alfred Newman) und es gibt sogenannte Filmmusik, die nur eine Aneinanderreihung von Charthits bietet. Also gilt auch hier: Label erzählen nur eine Schein-Wahrheit. Du bist also offenbar im Jazz zuhause. Aber Du hast im Laufe Deiner Karriere auch in Bands gespielt, die einen ganz anderen Stil bevorzugt haben. Auch hier ein Wehren gegen Stilschubladen? Ich habe ja nicht in anderen Bands gespielt, um irgendwelchen Etiketten zu entgehen. Ich bin Schlagzeuger. Ich bin musikbegeistert. Jazz, als grober Überbegriff, ist meine Lieblingsmusik. Aber das sind unglaublich allgemeine Aussagen. Wenn ich Musik höre, dann kann ich innerhalb von Minuten wechseln zwischen Modern Jazz, Frank Sinatra, einer Sinfonie von Ralph Vaughan Williams und einem Mix von Grandmaster Flash. Mich interessieren Etiketten nicht. Wenn ich auf der Straße herumlaufe und begegne innerhalb von zehn Minuten zwei Freunden, wobei der eine ein in sich gekehrter Typ ist, der andere ein flippiger, dann sage ich doch auch nicht dem einen oder anderen: "Du paßt mir jetzt nicht in meine Stimmung". Wenn es Freunde sind, dann freue ich mich, sie zu sehen. Mein Schlagzeugspiel spiegelt das Nicht-Festgelegte wider, denke ich. Ich bin beeinflußt vor allen Dingen durch das Zuhören einiger Meister wie Dannie Richmond, Art Blakey oder Elvin Jones. Aber ich bin auch großer Fan des Funkdrummers David Garibaldi von Tower of Power, des SoulPopJazz-Drummers Curtis Harmon der Gruppe Pieces of a Dream, mag sehr die James Brown-Drummer der Sechziger wie Clyde Stubblefield oder Jabo Starks. Dann liebe ich Percussionsounds aus Westafrika, habe wie erwähnt jahrelang Swing Drummer wie Gene Krupa oder Chick Webb gehört usw usw. Und es passiert Vieles im Alltag, was einen inspiriert. Deswegen lautet ja mein Lebensmotto "It's all rhythm". Als ich vor vielen Jahren mit R.L.MADISON- Mitbegründer Peter Goden per Fahrrad auf dem Weg zur Probe war, hörten wir Vogelgezwitscher - sich völlig zufällig überlagernde Gesänge, die einen interessanten Rhythmus ergaben. Im Proberaum bastelten wir sofort eine Improvisation daraus. Tauben z.B. haben eine ganz bestimmte Art der Kommunikation, die rhythmischen Mustern folgt. Ich benutze eine dieser Sequenzen in Schlagzeugsoli als wiederkehrendes Muster, wie früher gelegentlich Max Roach auch seine Soli aufgebaut hat: Eine Sequenz, aus der sich neue Strukturen entwickeln, zu der man aber immer wieder zurückkehrt. Jeder Tag ist voller Rhythmus und Inspiration. Nun gibt es im Alltag ohnehin zeitlich gesehen sehr viele Einschränkungen. Da lasse ich mir doch von niemandem einreden, daß ich dazu verpflichtet bin, nur einem Stil folgen zu dürfen. Warum hast Du Dich aber dann dagegen entschieden, in anderen Bands zu spielen und Dich stattdessen auf R.L.MADISON beschränkt? Dafür gab es zwei Gründe. Der erste ist unbefriedigend, deshalb aber trotzdem nicht zu ändern: Ich habe viel weniger Zeit für's aktive Musikmachen als früher. Deshalb konzentriere ich mich natürlich auf das, was mir am wichtigsten ist. Und das ist ohne Zweifel R.L.MADISON. Darüber hinaus läßt mir die Arbeit in dieser Band unglaublich viel stilistische Freiheit. Blues, Afro Grooves, Modern Jazz, Ballads, Soul, Funk - das kann alles passieren. Eins muß ich aber auch zugeben: Ungefähr 1993, als ich regelmäßig in drei Bands spielte, merkte ich, daß z.B. das im Bluesrock wesentlich mehr auf Kraft angelegte Spiel dafür sorgte, daß meine Spielweise grober wurde. Und das gefiel mir nicht. Ich galt zwar immer noch als sehr leiser Drummer, aber ich wollte auf keinen Fall das Gefühl für Feinheiten verlieren. Also zog ich daraus relativ kurzfristig meine Konsequenzen. Bereut habe ich das nicht. Du bist Autodidakt. Wie muß man sich das vorstellen? Tja, das mag bescheuert klingen, aber erklären kann ich das selbst nicht. Daß ich mir ein "Drum Set" aus Pappkartons, Gläsern, Flaschen usw. zusammengestellt habe und das mit Bleistiften bearbeitete, ist für Nachwuchsdrummer, deren Eltern nicht mit Geld für ein Instrument plus Partykeller plus Drahtseilnerven gesegnet sind, sicher nicht sonderlich ungewöhnlich. Warum das aber sofort ganz gut klappte, weiß ich nicht. Es war bei mir nicht bloß "learning by doing", sondern zunächst und bis heute "learning by listening". Wie schon gesagt waren meine ersten Einflüsse Swing Drummer wie Webb oder Krupa, mich faszinierten bald Leute wie Buddy Rich, Jo Jones, Lionel Hampton - auch ein Top-Drummer -  oder Ed Thigpen. Das 38er Carnegie Hall Konzert von Benny Goodman mit einigen für die damalige Zeit unerhörten Drum Parts von Krupa hat mich umgeschmissen, dazu Barrett Deems als Drummer der Louis Armstrong All Stars, sowohl in dem erwähnten Chicago-Konzert, das überhaupt meine Jazz-Erweckung darstellte. Die paar Momente, die Deems in dem Hollywood-Film "High Society" (1956) zu sehen ist, waren beinahe schon Augenblicke weltumspannender Bedeutung für mich. Man darf nicht vergessen, daß es Jazz im Fernsehen in meinen Kindertagen eigentlich gar nicht gab. Ehrlich gesagt heute im frei empfangbaren wieder genauso wenig. Selbst zu dieser Zeit war in den Augen vieler Durchschnittsmusikhörer der Schlagzeuger noch derjenige, der durch sein Geschepper eigentlich die ganze schöne Musik ruinierte. Das juckte mich nicht. Ich spielte und spielte auf meinen Behelfs-Drums und gewann naturgemäß so an Routine. Aus der Musikbücherei entlieh ich mir einige "Music Minus One" Platten und nahm dazu meine Kistendrums auf. Es ist köstlich, sich das heute anzuhören. Erst letztes Jahr habe ich ein paar dieser Platten auf CD erhalten, und als ich ohne Vorbereitung dazu Schlagzeug spielte, konnte ich noch zahlreiche Sachen sehr sicher begleiten - nach fünfundzwanzig Jahren. Damit will ich mich wahrlich nicht selbst loben. Aber offenbar muß ich in meinen Kinder-/Jugendtagen heftig trainiert haben! Als ich also 1988 mein erstes richtiges Drum Set kaufte, war ich zwar völlig ahnungslos, hatte aber zumindest rhythmisch vorgearbeitet. Und so konnte ich schon nach ein paar Tagen mein erstes kleines Konzert geben. Und das ist der Punkt, so ausgelatscht es auch klingt: Übung macht vielleicht nicht den Meister, aber immerhin einen, der was drauf hat. Deshalb können mich prinzipiell Top-Leute ihres Fachs nie in Ehrfurcht erstarren lassen. Wer mit 3 Jahren anfängt, ein Instrument zu erlernen, der wird, regelmäßiges Spielen vorausgesetzt, mit 20 über 17 Jahre Spielpraxis verfügen - in einer Lebensphase, die soviel Freizeit enthält wie später allenfalls das Rentenalter. Das kann man als Berufstätiger nicht erreichen - aber auch für ältere Anfänger bedeuten 17 Jahre Spielpraxis eine Menge Können. Ob es Radfahren, Snooker spielen, Bauchtanz oder das Lernen einer neuen Sprache ist - je länger ich etwas betreibe, umso besser kann ich es und umso selbstverständlicher wird und wirkt es. Ich kenne keinen Musikerneid. Ich erfreue mich an talentierten Leuten, an guter Musik, egal wie jung oder alt jemand ist. Entscheidend ist die Musik, sind die Ideen. Ich bin ja auch nicht neidisch auf Usain Bolt, weil der viel schneller laufen kann als ich. Warum sollte ich also auf Leute neidisch sein, die "besser" drummen können als ich? Nur weil wir dieselbe Leidenschaft teilen? Ich will lieber versuchen, der beste Schlagzeuger zu werden, der ich sein kann. Warum hast Du nicht später doch noch Unterricht genommen? Es mag vielleicht komisch klingen, ist aber eben die Wahrheit: Aus Sorge, daß sich dadurch mein Spiel verändern könnte. Und das will ich nicht. Ich bin ja nicht nur Autodidakt, ich bin auch musiktheoretisch vollkommen ahnungslos. Ich kann z.B. keine Noten lesen. Um ein Stück einzustudieren, muß ich es mehrmals hören, dann geht's im Normalfall. Wenn aber jemand von mir verlangt "Spiel doch da mal Sechzehntel", dann ist das für mich eine Fremdsprache. Ich fühle 4/4, ich fühle ¾, ich fühle zum Teil auch 5/4, andere, sehr krumme Taktarten fühle ich erst einmal nicht. Da ich aber ohnehin nicht der große Freund superkomplizierter Sachen bin - die aus meiner Sicht oft verschleiern, daß den Leuten nichts Gutes, Einfaches eingefallen ist - kann ich gut damit leben. Musik ist zum Teil auch Mathematik. Und ich Mathe war ich schon relativ früh eine ziemliche Null. Ich möchte mir die größtmögliche musikalische Freiheit bewahren ohne zu viel theoretisieren zu müssen. Es gibt dabei nur einen Nachteil: Ich würde sehr gerne auch ein Melodieinstrument spielen, und da käme ich auch im Jazz mit meinen Wissenslücken nicht besonders weit. Welches Instrument würdest Du denn gerne spielen können? Ich würde sehr gerne richtig singen können. Dazu bin ein ein Saxophonfan. Das Tenorsax ist für mich das ultimative Sax, gefolgt vom Sopran. Und mich fasziniert das Klavier, denn das ist ein ganzes Orchester für sich. Vielleicht noch eine Ergänzung zum Erlernen des Schlagzeugspiels: In gewisser Hinsicht habe ich permanent Unterricht. Ich habe ja das große Glück, desöfteren mit Nii Annan Odametey zusammenzuspielen, und der ist der größte Trommel-Lehrmeister, den man sich denken kann. Nun sitzen wir nie zu einer Unterrichtsstunde zusammen - das Lernen passiert während des Spielens, während eines Konzertes. Aber da kann ich in ein paar Minuten mehr mitnehmen als in Monaten sturen Arbeitens an vorgegebenen Patterns. Wohlgemerkt: Das gilt für mich und hat gar nichts Allgemeingültiges an sich. Wirst Du in Zukunft auch abseits von R.L.MADISON andere Projekte in Angriff nehmen? Wahrscheinlich. Ich würde gerne sehr experimentelle Sachen machen, die durchaus im Jazz wurzeln, aber sehr offen sind für alles. Ich werde sicher auch verstärkt mit Nii Annan arbeiten. Je mehr ich wieder in die Musikszene eintauche, umso mehr Kontakte ergeben sich. Das war auch früher schon so und hat zu spannenden und bizarren Gigs geführt. Ich erinnere mich an einen Auftritt mit einer Pianistin, es ging um eine Jazz & Poetry-Geschichte. Die Pianistin kam mit einigen Notenblättern an und halbfertigen Arrangements im Kopf, aber ich sagte ihr, sie solle das Zeug vergessen und einfach spielen. Dreist, nicht wahr? Wir spielten später reichlich abgedrehten Shit, aber es hat uns und dem Publikum Spaß gemacht. Manchmal ist es einfach wichtig zu spielen und sich vom Augenblick und der Interaktion inspirieren zu lassen. Ein anderes Thema: Du bist ja fast überall nur als "Birdy" bekannt. Ist Charlie "Bird" Parker ein Idol für Dich? Nein. Ich kann niemanden idealisieren, den ich nie kennengelernt habe. Es ist ohnehin nicht gut, ein Idol zu haben. Sich inspirieren lassen, okay, sich eine Person in bestimmten Dingen zum Vorbild zu nehmen, auch okay. Aber jemanden auf einen Podest zu heben oder gar einen Heiligenschein aufzusetzen? Definitiv nicht. Ich bin aber ein Fan von Charlie Parker's Musik und fasziniert von seiner Geschichte. Vor vielen Jahren las ich Ross Russell's Bio über Parker, "Bird lives". Und das fiel an meinem damaligen Arbeitsplatz - ich war Zivildienstleistender - auf. Da ich zu der Zeit viel über Musikmachen und Parker sprach - ich spielte zwar noch kein Instrument, aber es war kurz vor den ersten Versuchen auf Bongos - haftete mir der Name Bird ein bißchen an. Das war eher ein Gag, der sich dann aber verselbständigte: Viel erfreulicher als Parker's Lebensweise war das, was nach direkt nach seinem Tod geschah: Graffitis tauchten plötzlich auf: "Bird lives!" Und das klickte. Der Mann war tot, hatte ein Leben geführt, daß ihn mit 34 erledigt hatte, Drogen, klar; aber seine Bewunderer wußten es schon damals: Bird lebte. Denn seine Musik lebte. Und das tut sie noch heute. "Bird lives!" also. Nun hatte ich damals selbst nicht gerade den solidesten Lebenswandel und empfand diesen Graffiti als Zeichen der Hoffnung und der Verpflichtung. Es war also an der Zeit etwas zu schaffen, das einen selbst überdauern konnte, etwas, das andere inspirieren mochte. Das darf man nicht nur eingeschränkt auf Musik sehen. Im kunstvollen Tun ganz allgemein, im Falle solcher Leute wie Vincent van Gogh, Alfred Hitchcock, Montgomery Clift, James Baldwin, Michael Jordan usw usw., ist dies dasselbe. Es kostet viel Energie, aber es ist möglich, mit Kreativität Brücken zu bilden, ob zu Menschen oder auch in die Zukunft. Das trifft längst nicht nur auf die beispielhaft genannten Berühmtheiten zu. Man denke an die vielen ganz normalen besonderen Menschen, denen wir begegnen. Manche sind einfach da, manche sind leider da, aber es gibt Menschen in unserem Leben, die entfalten eine ganz besondere Wirkung, weil sie Gutes tun - allgemein oder im klein(st)en Rahmen - und dadurch eine gewisse Unsterblichkeit erlangen. Der Regisseur Budd Boetticher hat einmal gesagt "A man is not dead until the last man who remembers him is dead". Ich mag diesen Gedanken. So gesehen wird Charlie Parker weiterleben, solange irgendein Mensch auf dieser Welt Jazzsaxophon spielt oder vielleicht Jazz überhaupt, so immens ist sein Einfluß. Ich habe aus dem Ansporn "Bird lives!" etwas gemacht, meine Krisen überwunden, die Energie positiv genutzt und bin eben nicht mit 34 oder weniger abgetreten. Schade, daß Charlie Parker dies nicht auch gelungen ist. Ich halte nichts von der Heldenverehrung jung gestorbener Künstler. Parker wäre "noch unsterblicher", hätte er ein paar Jahrzehnte mehr Gelegenheit gehabt, seine Kunst weiterzuentwickeln. Aus "Bird" wurde in meinem Fall im Laufe der Jahre immer mehr "Birdy". Wer mich heutzutage noch "Frank" nennt - obwohl ich gegen diesen Namen nichts habe - der kennt mich entweder nicht gut, von ganz, ganz früher, oder befindet sich in großer Distanz zu mir. Du hast viele musikalische Projekte ins Leben gerufen, hast einige Zeit mit "Jazz in Duisburg" eine kleine Jazz-Zeitung für Duisburg herausgebracht und nicht zuletzt mit der "Soul Connection" fast zwölf Jahre eine Radiosendung moderiert, die sich mit der groovenden Seite des Jazz befaßte - siehst Du Dich als Botschafter des Jazz? Und verzweifelst Du nicht manchmal daran, daß es unmöglich zu sein scheint, diese Musik mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken? Jazz-Botschafter. Das hört sich gut an. Ich mag mich nicht so überhöht sehen, aber diese Rolle gefiele mir. Natürlich bleibt es ein aussichtsloses Unterfangen, wenn man die Absicht hegt, Jazz zur erfolgreichsten Musik der Gegenwart machen zu wollen. Jazz - hier eher Swing - war ja mal die Popmusik seiner Zeit, das war in den Dreißigern und Vierzigern, in Ansätzen noch in den Fünfzigern. Aber möchte ich dahin zurück? Nein. Ich habe damals nicht gelebt, ich kenne diese Ära also nur aus der Distanz und vermag sie nicht zu beurteilen. Das ist wie die berühmte Frage "In welcher Zeit hätten Sie gerne gelebt?". Manche Leute antworten dann ernsthaft "Das Mittelalter" und denken vielleicht an schmucke Kostüme oder Ritterlichkeit oder was weiß ich - malen sich dann aber nicht aus, daß sie abends weder Fernseher, noch iPod, noch Dusche, noch Kühlschrank noch Kopfschmerztabletten rumliegen hätten und sich stattdessen die Behausung mit allerlei Ungeziefer teilen dürften. Deshalb: Ich möchte gar nicht mit einer Zeitmaschine in die "golden era" reisen, allenfalls, um Legenden einmal live erleben zu können. Jazz geht auch hier und jetzt. Nicht so unmittelbar, nicht so häufig. Aber die Musik ist nach wie vor sehr lebendig. Manchmal gibt es darüber hinaus Momente, die einen als Jazzschaffenden sehr erfreuen. So sprach ich vor kurzem mit einer Frau, die mich nach André Zola Tuyala fragte, der von 1992 - 1999 bei R.L.MADISON mitgespielt hatte. Sie hatte ihn nicht vergessen, weder seinen Sound noch seine Persönlichkeit. Und erst vor wenigen Tagen trat ich in Kontakt zu einem Mann, der mir erzählte, er habe damals ein Konzert gesehen, bei dem es um unser "Spirit of Coltrane"-Programm ging. Der Mann hatte uns nicht vergessen. Diese Tour liegt knapp siebzehn Jahre zurück. Das ist doch irre. Und darum geht es mir, egal, ob ich Radio, Livemusik mache oder Artikel schreibe: Leuten eine gute Zeit zu bereiten. Das Bleibende, das man schafft, muß nicht in Geschichtsbüchern verewigt sein. Wichtiger ist, was in der Erinnerung und im besten Fall in den Herzen der Menschen weiterlebt. Das macht den Jazz auch zu einer solch einzigartigen Kunstform: Er erlaubt es Dir, Deine Persönlichkeit in die Musik eins zu eins zu übertragen. Ich spiele nichts und niemanden nach und bin auch nicht dem Ideal einer Werktreue verpflichtet. Ich spreche mit meiner Stimme, es sind meine Worte, Gedanken und Gefühle - nur daß ein Instrument dazwischengeschaltet ist. Du kokettierst manchmal damit, ein Mann der Vergangenheit zu sein. Was meinst Du damit? Jazz ist zwar immer gleichermaßen nicht-aktuell, war aber früher weniger nicht-aktuell als heute. Die Jazz- Stilformen, die ich schätze, hatten ihre Blüte vor langer Zeit. Das gilt bei mir aber eben nicht nur für Musik, sondern auch für Literatur und Film. Ich lehne Neues und Aktuelles auf keinen Fall rundheraus ab, aber die Stilistik älterer Filme oder Bücher liegt mir einfach mehr. Ich sehe auch in der medialen Glitzerwelt keine richtigen Stars mehr. Stars sind für mich nicht automatisch die Personen, deren Namen überall zu lesen sind und deren Visage mir überall entgegenprangt. Ich vermisse Talent gepaart mit Ausstrahlung. Ich beanspruche für mich sicher nicht, die ultimative Wahrheit über die Qualität der Musik zu kennen. Aber eines wird sicher fast niemand bestreiten: Weniger denn je geht es beim Thema Musik um die Musik selbst. So gesehen ist z.B. Lady Gaga schon ein Phänomen. Ihr Sound entspricht nicht meinem Geschmack, das gebe ich sofort zu. Aber ihr Erfolg hängt kaum mit musikalischem Talent zusammen. Ihr erster Riesenhit ist doch totaler Durchschnitts-3-Bausteine-Fertig-Shit. Die Frau versteht es, sich zu vermarkten und immer wieder für Aufsehen zu sorgen. Das ist der Punkt. Ob sie letztlich singen kann, spielt doch für die meisten Leute kaum noch eine Rolle, weil hier ein - derzeit ein beliebtes Wort - Gesamtpaket verkauft wird. Jedem das Seine. Mir liegt es mehr, daß Musiker im herkömmlichen Sinne ihr Instrument beherrschen, daß ein Konzert auch ohne Effekte wirkt und daß ein Musiker oder eine Band live mindestens genauso gut ist bzw. sind wie auf Platte. Es gab früher auch schon viel Musikschrott und untalentierte Stars - aber der Anteil an erfolgreichen Musikern und Bands, die ihr Handwerk beherrschten (ganz gleich, ob einem der Stil gefällt oder nicht), war höher. Aber ich lasse mich gerne von Neuentdeckungen überraschen. Es ist wichtig, mit offenen Sinnen durch's Leben zu gehen. Wie wohl fühlst Du Dich eigentlich auf der Bühne? Bist Du Lampenfieber-geplagt? Lampenfieber kenne ich nicht. Entweder ich bin vorbereitet oder nicht. Natürlich ist eine gewisse Anspannung spürbar, aber das ist ja auch gut so, schließlich geht es bei einem Gig darum, daß Leute (so hoffe ich doch) freiwillig gekommen sind, um sich das anzusehen und anzuhören, was man da so zu präsentieren hat. Also ist es mir eine Verpflichtung, konzentriert an die Sache zu gehen. Und das erwarte ich auch von den anderen, die mit mir auf der Bühne stehen. Fehler können bei einem Drei-Stunden-Gig immer passieren und werden bei einem Drei-Stunden-Gig immer passieren. Wenn mir ein gravierender Fehler passiert, kann schon mal das ganze Stück stolpern. Aber darüber mache ich mir nicht so viele Gedanken. Mir macht es großen Spaß zu spielen, mir macht es großen Spaß, ein Programm zu planen, mir macht es großen Spaß, die Bandkollegen auf der Bühne zu präsentieren und durch entsprechende Ansagen das Publikum dazu zu bringen, einen kräftigen Applaus zu spenden. Ich mag keine Allüren wie z.B. sich arrogant vom Publikum abzuwenden oder Keith Jarrett-Ausraster zu produzieren, wenn ein Zuschauer einen Hustenanfall bei einer Ballade hat. Es gibt Abende, da funktioniert das Programm, da spielt die Band wie aus einem Guß, da spürt man die positive Energie zwischen Bühne und Zuschauerrängen hin- und herwabern. Dann sind alle im Raum eine große "Madison Gang". Das hat was. Und ganz ehrlich: Manchmal passiert es, daß bei den ein, zwei längeren Drum Soli eines Abends ein Gedanke durch meinen Kopf schießt: Dann spiele ja wirklich nur ich, und ich denke, daß gerade fast alle Leute nur auf mich blicken und mich rumhampeln sehen. Den ollen Birdy, der vor vielen Jahren auf seinen Kistendrums angefangen hat. Das kommt mir dann schon ganz schön bizarr vor. Aufgezeichnet im Februar 2011